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Zivilinternierte aus Jersey
Am 30. Oktober 1942 wurde eine große Gruppe von zivilen Gefangenen aus dem Lager Lindele in Biberach in das vormalige Kriegsgefangenenlager Oflag VC im Wurzacher Schloss verlegt - über 600 Männer, Frauen und Kinder von der britischen Kanalinsel Jersey.
Victor Hugo hatte die Kanalinseln als ins Meer gefallene Stücke von Frankreich bezeichnet, die von England aufgefischt worden seien, und in der Tat prägt das normannische Erbe die Inseln bis heute. Diese vor der normannsichen Küste gelegenen Inseln wurden 1940 zum Abschluss des Westfeldzuges besetzt und blieben bis zum 9. Mai 1945 als einziges britisches Territorium unter deutscher Besetzung.
Diese Eroberung hatte für die Kriegspropaganda einen großen symbolischen Wert, denn es handelte sich um den einzigen Teil Großbritanniens, den deutsche Truppen während des ganzen Krieges besetzen konnten.
Obwohl im Rückblick die militärische Bedeutung dieser Inseln nicht sehr groß war, wurden ab Sommer 1941 große Anstrengungen unternommen, um die Inseln zu uneinnehmbaren Festungen auszubauen. Im Rahmen der deutschen Militärverwaltung wurden sie als Teil des nordfranzösischen Département de la Manche behandelt.
In der ersten Phase der Besatzung wurde großer Wert auf die korrekte Behandlung der einheimischen Bevölkerung gelegt. Um so größer war das Entsetzen der Kanalinselbewohner, als am 15. September 1942 in den Zeitungen von Guernsey und Jersey die Deportationsankündigung veröffentlicht wurde. Die von der Deportation betroffenen Menschen wussten nichts über die Ursachen ihrer Internierung. Selbst der mit der Ausführung des Deportationsbefehls beauftragte Feldkommandant konnte ihnen nur mitteilen, dass der Befehl direkt von Hitler gekommen sei. Insgesamt wurden auf persönliche Anordnung Hitlers etwas mehr als 2000 Zivilisten - Männer, Frauen, Kinder - als Reaktion auf die Internierung von deutschen Staatsbürgern im Iran ins Deutsche Reich deportiert. Sie wurden hier bis zum Kriegsende festgehalten, obwohl alle beteiligten Behörden keinen Sinn darin erkennen konnten
Auf Jersey hatten viele Menschen weniger als 12 Stunden Zeit, ihre Vorbereitungen zu treffen, da der erste Transport bereits am 16. September abging. So wie bei den anderen Abtransporten am 18. und 29. September 1942 und in einer zweiten Deportationswelle im Februar 1943 wurden die betroffenen Familien immer von einer großen Zahl von Freunden verabschiedet. Der Transport nach Deutschland verlief aber im Vergleich zu Millionen anderen Unglücklichen unter viel besseren Umständen, nämlich in normalen Eisenbahnwagen, 2. Klasse. Allerdings wusste niemand, wohin die Reise gehen sollte. Eine große Gruppe landete im Oflag VI Dorsten, südwestlich von Münster in Westfalen, eine andere in Biberach im Lager Lindele. Ledige Männer und ältere Söhne wurden schon bald in das Männerlager Laufen in Oberbayern verlegt, einige Frauen nach Liebenau. Das Lager in Biberach erwies sich dennoch als zu klein für die große Zahl von Internierten, so dass schließlich das Schloss in Wurzach als Zweiglager für 618 Internierte übernommen wurde. Übereinstimmend berichten alle Internierten davon, dass sich das Schloss bei ihrer Ankunft in einem stark verwahrlosten Zustand befunden habe, so dass man die ersten Tage damit zubrachte, das alte Gebäude bewohnbar zu machen.
Das Wurzacher Schloss war kein Konzentrationslager und es waren keine SS-Einheiten eingesetzt, aber dennoch lag die zentrale Entscheidungsbefugnis über das Internierungslager in der Hand des Reichsführers-SS und Chefs der Deutschen Polizei im Reichsministerium des Innern. Daneben spielen das Deutsche Auswärtige Amt, das württembergische Innenminsiterium, die Kriegsgefangenenabteilung des Oberkommandos der Wehrmacht und die Schutzmachtabteilung der Schweizerischen Gesandtschaft eine zentrale Rolle für das Schicksal der Internierten. Fast idealtypisch lassen sich die Auswirkungen der nationalsozialistischen Polykratie aufzeigen, in der verschiedene Instanzen zuweilen ganz unterschiedliche, häufig gegenläufige Interessen verfolgten.
Die zentralen Anweisungen kamen in der Regel vom Reichssicherheitshauptamt in Berlin. Als die ersten Internierten im Schloss eintrafen, war noch die Wehrmacht für die Verwaltung des Lagers zuständig, aber bereits am 1. Dezember 1942 erfolgte die Übergabe an das württembergische Innenministerium. Die Wacheinheiten der Wehrmacht wurden abgezogen und durch Polizeikräfte des Wachbataillons der Schutzpolizei Ravensburg ersetzt. Lagerkommandant wurde der Meister und spätere Leutnant der Schutzpolizei Martin Riedesser, von den Internierten freundschaftlich "Schorsch" genannt. Die Gefangenen standen von Anfang an unter dem Schutz internationaler Überwachung, d.h. dass Vertreter der Schutzmacht Schweiz und von Hilfsorganisationen wie dem Internationalen Roten Kreuz oder der Kriegsgefangenenhilfe der YMCA Zugang zu den Lagern erhielten und humanitäre Hilfe leisten durften.
Aus diesem Grund waren die Internierten nach anfänglichen Versorgungsschwierigkeiten in manchen Dingen besser versorgt als die Wurzacher Bevölkerung, was die Grundlage für einen verbotenen, aber regen Tauschhandel ergab - Schokolade oder Zigaretten gegen frisches Gemüse oder Fleisch. Kontaktmöglichkeiten ergaben sich bei den unter Bewachung der Schutzpolizei stattfindenden Spaziergängen, und noch mancher ältere Bewohner Wurzachs erinnert sich gern daran, dass er als Kind ein Stück Schokolade oder Kekse geschenkt bekam.
Zwei Gruppen von Zivilinternierten wurden vor Kriegsende repatriiert, d.h. sie durften aus Gesundheitsgründen vorzeitig nach Großbritannien zurückkehren - eine Rückkehr nach Jersey war wegen der deutschen Besatzung unmöglich.
Am 28. April 1945 wurde Wurzach von französischen Truppen besetzt, die nichts von der Existenz des Internierungslagers gewusst hatten. Die auch in Wurzach errichteten Panzersperren an den Ortseingängen waren von besonnenen Bürgern wieder beseitigt worden, so dass die Stadt ohne Kampfhandlungen besetzt werden konnte.
Die Internierten jubelten den französischen Soldaten, die den Stacheldraht niederrissen, begeistert zu. In allen Erinnerungen an diese Vorgänge taucht der französische Offizier auf, der sie mit einem "Vous êtes libres" (Sie sind frei!) am nun offenen Tor begrüßte.
Der stellvertretende englische Lagerkapitän Frank Ray wurde zum provisorischen Bürgermeister ernannt, und viele ältere Wurzacher sind heute noch überzeugt, dass sie es ihm zu verdanken haben, dass es in diesen ersten Tagen und Wochen keine Ausschreitungen gegen die Zivilbevölkerung gab. Die Internierten aus Jersey mussten noch einige Wochen lang auf ihre Heimreise warten, bis sie schließlich Anfang Juni in französischen Militärlastwagen zum Flugplatz Mengen gebracht und von dort zum britischen Militärflughafen Hendon in der Nähe von London ausgeflogen wurden.
Bereits wenige Jahre nach dem Krieg kamen immer wieder ehemalige Internierte zurück nach Wurzach und besuchten Familien, mit denen sie sich während ihrer Internierungszeit angefreundet hatten. Diese Kontakte wurden über die Jahrzehnte hinweg gepflegt und führten schließlich 2002 zum Abschluss einer Städtepartnerschaft zwischen St. Helier auf Jersey und Bad Wurzach.
Liste der im ILAG Wurzach internierten Personen (pdf)
( Internees in Wurzach Internment Camp)
Liste Einzelfälle der im ILAG Wurzach internierten Personen (pdf)
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